Rezension
Es sind die schönsten, direktesten, intimsten, kurz: berührendsten Songs, die Adrianne Lenker je geschrieben und gesungen hat. Und das will bei der Big Thief-Sängerin wirklich etwas heißen; allein ihr 2018er Soloalbum „Abysskiss“ war ja an atmosphärischer Dichte kaum zu überbieten, sollte man meinen. Das Album entstand während des Lockdowns, nachdem die Tour mit Big Thief abgebrochen werden mußte. Lenker zog sich dafür in eine Holzhütte in Massachusetts zurück (sie habe sich gefühlt wie im Inneren einer Gitarre, also umgehend heimisch), zunächst alleine zum Schreiben, dann für die Aufnahmen mit Freund und Tontechniker Phil Weinrobe. Digitales Equipment hatte Hausverbot, Lenker wollte den denkbar natürlichsten Klang – und bekam ihn. Inklusive knarrender Stühle oder draußen heulendem Wind und singenden Vögeln. Auf die Songs im Einzelnen einzugehen wäre lohnend (wie überhaupt jede Beschäftigung mit diesem Wunder von einem Album), kann hier aber nicht geschehen. Hingewiesen aber werden muß auf die zweite, wortlose Hälfte des Albums: Die ist nämlich keineswegs geringerwertig oder gar überflüssig, sondern wesentlicher Bestandteil dieses Albums. Seite drei enthält die Akustikgitarrenmeditation „Music For Indigo“, so unmittelbar direkt aufgenommen, daß man schier selbst zum Teil des Instruments wird: Jenes kommt auf der vierten Seite nur noch anfangs vor, dann folgen nur noch einzelne Glockenspiel-Töne – so wunderbar gesetzt allerdings, daß es wohl doch nicht der Wind ist, der darauf spielt, sondern ein Mensch –, begleitet von Tierlauten und raschelndem Laub. Ein idealer Ausklang für dieses Ausnahmealbum. Man sollte sich unbedingt die Zeit nehmen, es durchzuhören. Danach freilich kann nur noch Stille folgen. (2020)