Rezension
Haydn-Sonaten und Schubert-Impromptus: Viel unspektakulärer, sollte man meinen, kann ein Konzertabend kaum sein. Aber der Pianist ist Grigory Sokolov, und selbstverständlich gelingt es dem nicht zu Unrecht kultisch verehrten Musiker auch hier, die von ihm ausgewählte Musik in einer Form zu gestalten, als seien es nicht nur die bedeutendsten Werke der Musikgeschichte, sondern als habe er, Sokolov, sie gerade erst entdeckt und stellte sie nun erstmals einem Publikum vor. Daß er das ohne übertreibende Gesten schafft, ist die immer wieder unglaubliche Leistung dabei: Jede Note hat Gewicht, ist bis ins letzte Detail ausgearbeitet, und doch wirkt das Große Ganze niemals überfrachtet. Atemlos hört man diesen vier Haydn-Sonaten zu, stellt ein ums andere Mal fest, daß der alte Josef nicht nur diese musikalische Form praktisch erfand und ihre Gesetze festlegte, sondern sie auch gleichermaßen bereits perfektionierte. Wie sehr er seine Nachfolger beeinflußte, stellt Sokolov in seiner folgenden Schubert-Interpretation dar; die Verwandtschaft ist unüberhörbar, und die Theorie, daß gerade die vier Impromptus D 935 eine Sonaten-Form reflektieren, wirkte selten so einleuchtend. Selten gut hörbar ist hier zudem, wie Schubert mit den Mitteln der Wiener Klassik die Romantik vorbereitete… Nicht unerwähnt bleiben darf natürlich der bei Sokolov stets großzügige Zugaben-Block, eingeleitet von einem Satz aus einer Rameau-Suite (sparkling!), es folgen noch einmal Schubert („Mélodie hongroise“ D 817), das 15. Chopin-Prélude aus Op. 28, zwei seltene Walzer des eigentlich eher als Dichter bekannten Russen Alexander Gribojedow und, abschließend, ein alles Irdische transzendierendes „Des pas sur la neige“ (das sechste aus dem ersten Buch der „Préludes“) – so hat man Debussy auch selten gehört… (2022)