Rezension
Erstmals dirigierte der mit 18 Jahren nach Österreich emigrierte russische Dirigent die Berliner Philharmoniker im Jahre 2006, es folgten immer wieder Gastspiele – 2016 dann wurde Kirill Petrenko als Nachfolger Simon Rattles zum Chefdirigenten des Orchesters gewählt; die Amtszeit begann offiziell im August 2019. Die hier enthaltenen Aufnahmen stammen mit Ausnahme der 9. Symphonie Beethovens alle aus den Jahren davor: Auf dieser Box wird sozusagen dokumentiert, wie die Zusammenarbeit, die schließlich zu Petrenkos Wahl führte, sich festigte; die „Neunte“ war dann sein offizielles Antritts-Konzert (wie üblich bei den Veröffentlichungen des Eigenlabels des Orchesters handelt es sich um Live-Aufnahmen). Die älteste stammt aus dem Jahre 2012 und dürfte das dem Hörer am wenigsten vertraute Werk sein: Rudi Stephans „Musik für Orchester“, ein gerade 15minütiges Stück, geschrieben im Jahre 1910. Der fünf Jahre später im Ersten Weltkrieg gefallene Stephan – er wurde 28 Jahre alt – galt als eines der vielversprechendsten Talente seiner Generation. In den 1920er Jahren wurde sein schmales Werk an der Schnittstelle zwischen Spätromantik und Moderne regelmäßig aufgeführt; dann verschwand es wie so vieles, was den Vorstellungen der Nazis von „deutscher Kultur“ zuwiderlief, aus den Spielplänen – es hatte sich noch nicht genug im kollektiven Gedächtnis verankern können, um nach den Jahren der braunen Pest wiederentdeckt zu werden. Was man versäumt hat, kann man in Petrenkos engagierter Interpretation hören. 2017 gastierte der Dirigent dann mit einer grandiosen Tschaikowsky-„Pathétique“ – sie wurde anno 2019 bereits einzeln auf Vinyl veröffentlicht und auf diesen Seiten ausführlich gewürdigt. Im Folgejahr brachte der Dirigent abermals eine Repertoire-Rarität auf den Spielplan: Die ihm besonders viel bedeutende vierte Symphonie des Österreichers Franz Schmidt (1874-1939), einer der letzten Höhepunkte der romantischen Orchesterliteratur, tatsächlich ein Werk von himmlischer Schönheit – man kann es kaum anders formulieren. Vorliegende Aufnahme war die erst dritte Aufführung in der Geschichte des Orchesters; im Analogzeitalter gab es eigentlich nur die Zubin Mehta-Aufnahme (Decca) aus dem Jahre 1973; erst in den letzten Jahren wird Schmidts Schaffen langsam wiederentdeckt… 2018 dann erstmals ganz klassisches Berliner-Repertoire: Beethovens Siebte! Meilenweit entfernt freilich von insbesondere den späteren Karajan-Interpretationen, doch auch anders als unlängst noch von Rattle gehört: Klar, schlank, biegsam, doch bei Bedarf auch auf eine athletische Art muskulös. Petrenko beweist sein Talent für die ideale Tempowahl und kreierte eine Aufnahme des vielgespielten Repertoirestücks, der man von Anfang bis Ende mit höchster Aufmerksamkeit folgt. Auch die folgende Tschaikowsky-Fünfte (März 2019) zählt sicher zu den meistgespielten symphonischen Werken des klassisch-romantischen Repertoires, und auch hier folgt Petrenko seinem Credo, daß man solche Stücke nur dann aufführen sollte, wenn man wirklich etwas dazu zu sagen habe. Daß das hier der Fall ist, zeigt sich schon in der Einleitung; die Mischung aus Delikatesse und Hochspannung hält an bis zum überwältigenden Finale. Daß sich Petrenko dann bei seinem offiziellen Inaugurations-Konzert nicht lumpen ließ, dürfte auf der Hand liegen – doch seine „Neunte“ übertraf auch höchste Erwartungen. Er befreite das Werk von jedem Ballast, ließ es fließen und strahlen – die Spielfreude im Scherzo ist geradezu infektiös. Der Schlußsatz ist überragend, auch Dank großartiger Leistungen des Chores und der Gesangssolisten (die von Tenor Benjamin Bruns muß man mindestens hervorheben). Spätestens mit dieser Performance hatte Petrenko die Berliner – Orchester wie Publikum – endgültig für sich gewonnen! – Daß die klangliche Seite (durchweg agiert das bekannte Team aus Produzent Christoph Franke und Cheftonmeister René Möller) hier ebenfalls vom Feinsten ist, dürfte sich von selbst verstehen. 1500 Exemplare wurden von dieser Schatzkiste gefertigt; ein leinengebundenes Buch mit vielen sehr lesenswerten Texten begleitet die Box. (2023)