Rezension
Das ist beinahe noch sensationeller als die auch schon schwer verzichtbare erste Box der “Bootleg Series” (mit großartigen Live-Aufnahmen des Jahres 1967). Denn hier spielt das sogenannte “Lost Quintet”, die kurzlebige Besetzung aus Wayne Shorter, Chick Corea, Dave Holland und Jack DeJohnette, die in dieser konzentrierten Form niemals ein Studioalbum aufnahm (bei “Bitches Brew” waren zwar alle dabei, aber eben noch ein paar Leute mehr). Es ist ein Scheitelpunkt in der Davis-Diskographie: Von Coreas Rhodes-Piano abgesehen, ist dies noch akustischer Jazz, dessen Grenzen hier noch einmal tief ausgelotet werden. Drei Shows der 1969er Europa-Tour finden sich in dieser Schatzkiste; die ersten beiden vom französischen Juan-Les-Pins-Festival in Antibes zeigen ein Quintett, das man nur mit dem Wort “entfesselt” beschreiben kann: Freiere und wildere, auch: aggressivere Musik gibt es auch in der späteren Davis-Diskographie nicht viel. Es gibt auch hier faszinierende lyrische Momente, die aufgrund der rauhen, ja chaotischen Umgebung dann um so mehr berühren… Die dritte Show kommt aus Stockholm, hier erleben wir die Band versöhnlicher gestimmt. Der Charakter ist aber auch schon deswegen ein anderer, weil Coreas E-Piano wegen eines Defektes hier von einem konventionellen Flügel ersetzt wurde (zumindest in der ersten Hälfte). Faszinierende Frühversionen späterer “Bitches Brew”-Tracks finden sich freilich in beiden Shows – und zu behaupten, das Album schlösse eine Lücke, ist eine starke Untertreibung: Wir wohnen echten Schlüsselmomenten bei! – Neupressung der exklusiven 2013er Vinylausgabe von MOV. (2013, Pressung 2024)