Es ist bedauerlich, doch bei einer derart vielfältig interessierten Künstlerpersönlichkeit wie der Glenn Goulds nicht erstaunlich, daß es beim ersten Teil des Mammutwerkes blieb: Die Kontrapunkte 1-9 aus BWV 1080 blieben die einzige Orgel-Aufnahme des Kanadiers. Dabei ist davon auszugehen, daß es vor und nach ihm vermutlich kaum einen Interpreten gegeben hat, der das unglaubliche Vermächtnis des Thomaskantors besser begriffen hat – Gould war schließlich immer auch ein begeisterter Analytiker der von ihm eingespielten Werke. Bachs „Kunst der Fuge“, eine der komplexesten Sammlungen der gesamten Musikgeschichte, muß daher eine besondere Faszination auf ihn ausgeübt haben. Bach zog hier quasi einen Schlußstrich unter die barocke Fugentechnik, indem er deren vielfältige Möglichkeiten bis auf den Grund auslotete – in einer Perfektion, die unerreichbar bleiben mußte. Das Paradoxon des Werkes: Ein Musikwissenschaftler-Leben reicht für eine umfassende Analyse kaum aus – und doch ist es von einer emotionalen Tiefe, die es auch dem Laien ermöglicht, diese Musik buchstäblich zu erleben. Das gilt unvermindert für Goulds, für ihre Entstehungszeit ausgesprochen ’neutral‘ gehaltene Interpretation  – die, wie bei ihm üblich, dem Hörer die Meisterschaft von Bachs Kontrapunktik ganz besonders erfahrbar macht! – Ein Analogmaster wird dieser Midprice-Ausgabe zwar kaum zugrunde liegen, doch die Fertigung ist vorbildlich! (1962/2015)