Rezension
Das schlug hohe Wellen damals! Euphorisch reagierten die meisten, nicht wenige waren aber auch schlicht entsetzt. Vor allem ob des respektlosen Auftretens des jungen Briten, denn damals wurde im konservativen Klassik-Lager noch sehr viel Wert auf Etikette gelegt. Nigel Kennedy führte sozusagen den Punk in die bis dato gut geschützte Welt der Konzertsäle, und manch einer übersah dabei, daß der Typ tatsächlich Geige spielen konnte. Sehr vielseitig übrigens, an der Seite von Stéphane Grappelli (seine Jazz-Erfahrung läßt er hier immer mal wieder einfließen) ebenso wie als Solist des anspruchsvollen Elgar-Konzertes, mit dem er 1984 erstmals auf Schallplatte zu hören gewesen war. Über 30 Jahre später hat sich der Klassik-Betrieb radikal verändert, Abendgarderobe ist nicht mehr verpflichtend, bunte Haare jucken niemanden mehr. Man kann Kennedys Aufnahme, die alle Verkaufsrekorde brach und im Vereinigten Königreich zwei Jahre lang die Klassik-Charts anführte, unvoreingenommen wiederhören und wird dabei feststellen, daß der Mann nicht nur einfach frischen Wind in die Barock-Partitur blies, sondern sich über selbige reichlich Gedanken gemacht hatte – denn hier wird nichts übers Knie gebrochen, Kennedys gestalterische Fantasie ist groß, doch sie ergibt stets Sinn. Längst zählt seine Interpretation zu den Referenzaufnahmen des wohl meistgespielten Konzertzyklus’ überhaupt. Man lehnt sich übrigens nicht zu weit aus dem Fenster, wenn man die These aufstellt: Daß es heute überhaupt noch einen lebendigen klassischen Konzertbetrieb gibt und die alte “bürgerliche Musikkultur” nicht erst völlig verknöcherte und dann ausstarb, haben wir wahrscheinlich zu einem gar nicht so geringen Teil dieser Aufnahme und ihrem gewaltigen Erfolg zu verdanken. (1989/2022)