Rezension
22 Jahre sind vergangen seit ihrem Album mit Rustin Man (Paul Webb), 16 seit dem dritten und wohl finalen Portishead-Werk. Seither gab es gelegentliche Lebenszeichen, das eindrucksvollste im Jahre 2019, als sie bei einer Neuaufnahme von Henryk Góreckis „Klagelieder“-Symphonie den Sopranpart übernahm. Da hatte sie mit der Arbeit an ihrem ersten echten Soloalbum schon längst begonnen. Es ist das wohl mit der größten Spannung erwartete Album seines Jahrgangs. Es wird sehr wahrscheinlich viele Endjahres-Bestenlisten anführen, was die enigmatische, öffentlichkeitsscheue Songwriterin nicht interessieren wird. Natürlich ist „Lives Outgrown“ ein Meisterwerk. Man empfand Gibbons‘ Stimme immer als etwas Außerweltliches, jenseits von Raum und Zeit, schon beim Portishead-Debüt vor 30 Jahren, insofern entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, daß Zeit ein Kernthema dieses Albums ist, in Form von Vergänglichkeit, Endlichkeit und Sterblichkeit. Erstaunen mag die stilistische Bandbreite: Zwischen dem pastoralen „Whispering Love“ und dem schon beinahe brutalen „Rewind“ liegen Welten, manches erinnert an ihre Trip Hop-Anfänge, anderes klingt, als habe Tom Waits es instrumentiert, aber natürlich ist Gibbons‘ Stimme die große Klammer, die alles zusammenhält. Mit bald 60 klingt sie intensiver denn je. Man möchte nicht von einem „besten“, „wichtigsten“, „berührendsten“ Album des Jahres sprechen, es wäre auch anderen Musikern gegenüber unfair: Beth Gibbons existiert außerhalb solcher Kategorien. Auch dann, wenn sie über irdische Dinge singt. (2024)