Rezension
Schon Harnoncourts Ersteinspielung der „Großen Passion“ aus dem Jahre 1970 war eine Pioniertat, mit der ein neues Kapitel der Interpretation barocker Vokalmusik aufgeschlagen wurde. 30 Jahre später übertraf der Dirigent sich selbst, mit der bis heute wohl bewegendsten, ja mitreißendsten Aufnahme dieses Gipfelpunktes der Gattung. Schlank und beweglich wirkt das Werk mit der größten Besetzung im gesamten Schaffen des Thomaskantors; spannend und dramatisch wie eine Oper, und dabei doch von ergreifender Spiritualität. Das Vokalensemble ist überragend, Christine Schäfers „Aus Liebe“, Michael Schades „Geduld“, Dietrich Henschels „Mache Dich“ – beinahe jede Solo-Arie hier ist ein Glanzlicht (für die Chor-Passagen gilt im Übrigen dasselbe!); in bezug auf die Stimmen ist die alte Karl Richter-Aufnahme vielleicht die einzige, die es mit dieser aufnehmen kann. Harnoncourts Bach-Bild freilich ist ein gänzlich anderes, hier strahlt die opulente Partitur in hellstem Licht. Die überragende Akustik der Wiener Jesuitenkirche sorgt zusätzlich für Transparenz ohne Sprödigkeit. Eine Jahrhundertaufnahme; nun endlich erstmals auf Vinyl. (2001/2022)