Rezension
Die Behauptung, dies sei das erste Dylan-Album mit neuen Songs seit 2012, ist diskutabel. Man muß den Songbegriff zumindest sehr weit fassen: Wenn zu einem Song wiedererkennbare Melodien und Akkordfolgen gehören, kommt man hier nicht weit. Klassische Blues-Riffs gibt es, doch oft spielt die (fabelhafte) Band einfach nur Harmonien, die aus dem Great American Songbook bekannt sind; die intensive Beschäftigung mit dem Erbe Frank Sinatras der letzten drei Alben findet so ihre Fortsetzung. Manchmal sind es auch andere Quellen, etwa Jacques Offenbachs „Barcarolle“. Aber es geht hier auch gar nicht um Songs. Sondern um Stimmungen, um Atmosphäre, um die Stimme des 79jährigen Meisters und um das, was er uns zu sagen hat. An der Dechiffrierung dieser Gedichte (mit höchstkarätiger musikalischer Untermalung) werden Literaturwissenschaftler noch in vielen Jahrzehnten arbeiten. Dylan deklamiert sie mit überraschender Deutlichkeit, da ist kein Nuscheln, jede Silbe ist ausformuliert. Es ist unmöglich, dieses Album „nebenher“ zu hören, es verlangt absolute Aufmerksamkeit. Intensiver klang selbst Dylan nur selten in seiner langen und wechselhaften Diskographie. Was einen Song nun ausmacht? Es spielt hier wirklich keine Rolle. (2020)