Rezension
Vom Neuen Testament der Violinliteratur gibt es signifikant weniger Aufnahmen als vom Alten (Bach natürlich) – was kaum verwundert, denn Eugène Ysaÿes sechs Solosonaten, komponiert im Jahre 1923, gehen erstens nicht ganz so selbstverständlich ins Ohr und gelten obendrein als zu den technisch anspruchsvollsten gehörenden Werken für Violine überhaupt – daß Ysaÿe damals jede Sonate einem bestimmten Großvirtuosen seiner Zeit widmete und sie auf dessen spezifische Technik “zuschnitt”, macht es sicherlich nicht einfacher (namentlich sind das Joseph Szigeti, Jacques Thibaud, George Enescu, Fritz Kreisler, Mathieu Crickboom und Manuel Quiroga, mit deren Spiel sich ein moderner Interpret dann erst einmal eingehend beschäftigen darf, um die Feinheiten des Notentextes zu erfassen). Hilary Hahn hat, anläßlich des hundertsten Geburtstags des Zyklus’, die Mammutaufgabe auf sich genommen – und sie ist tief, sehr tief darin eingetaucht. Sie selbst schreibt in den Linernotes, daß ihr Ysaÿes Musik inzwischen so natürlich vorkomme, als habe sie selbst sie komponiert. Das ist keine Überheblichkeit – Hahn hat diese Sonaten im Wortsinne verinnerlicht, hörbar. Und das ist keine geringe Leistung, denn Ysaÿes Musik verlangt sehr viel mehr als technische Souveränität: Der Komponist selbst hatte gefordert, ein Meister der Violine müsse nicht nur ein Geiger sein, sondern auch ein Denker, ein Dichter, ein Mensch, müsse Hoffnung, Liebe, Hingabe und Verzweiflung erfahren haben. Denn diese Sonaten haben einen Tiefgang, enthalten emotionale Stürme und Abgründe, die sie in die Nähe der großen (spät)romantischen Symphonik rücken, von Berlioz bis hin zu Mahler. Hilary Hahn geht in dieser Aufnahme bis auf den Grund, und das Fazit von Rob Cowan im Gramophone Magazine ist ein perfektes Schlußwort: “Difficult to equal, let alone surpass.” (2023)