Rezension
Es gab und gibt Aufführungen dieses Werkes mit mehr als 800 Sängern. Der belgische Alte Musik-Pionier Philippe Herreweghe ist aber nun niemand, dem man einen Hang zur Opulenz nachsagen würde. Konsequenterweise sind auf dieser Aufnahme aus dem Jahre 2011 nicht einmal ein Zehntel, nämlich gerade 60 Stimmen zu hören; und wie meistens hat Herreweghe Recht. Das 1876/77 entstandene Werk, mit dem der Komponist nicht nur den Schmerz der Mutter Jesu, sondern auch seinen eigenen verarbeitete (Dvoráks drei junge Kinder waren kurz zuvor in kurzen Abständen gestorben), ging wohl selten so unter die Haut wie in dieser entschlackten Version. Und einmal mehr darf man über die ungeheure Sensibilität und Nuanciertheit des 1970 von Herreweghe gegründeten und seither von ihm geleiteten Collegium Vocale Gent staunen. Wer befürchtet, daß das Werk hier seines romantischen Wesens beraubt wird (was nicht selten geschieht, wenn Vertreter der „historischen Aufführungspraxis“ sich mit Repertoire des späteren 19. Jahunderts beschäftigen), könnte falscher kaum liegen: Herreweghes Reduktion läßt einen die Seele dieser zutiefst spirituellen Musik unmittelbarer denn je erfahren. (2011/2018)