Rezension

Daß Chan Marshall Bob Dylan liebt, ist kein Geheimnis, und wie großartig sie seine Songs interpretieren kann, weiß man auch schon länger (aus ihren beiden Cover-Alben wie ihren Konzerten). Dies hier freilich hebt die Verehrung auf ein neues und eigentlich kaum mehr zu übertreffendes Level: Marshall führt das komplette sogenannte „Royal Albert Hall“-Konzert aus dem Jahre 1966 auf. Und da der eigentliche historische Original-Ort, die Manchester Free Trade Hall, heute ein Hotel ist, eben dort, wo es der legendäre Bootleg weiland fälschlicherweise verortete. Frappierend von Anfang an ist, wie Marshall eine Spannung erzeugt, die der des Originals in nichts nachsteht: Man klebt an ihren Lippen, auch in Mammut-Songs wie „Visions Of Johanna“ (neuneinhalb Minuten) oder „Desolation Row“ (hypnotische zwölfeinhalb). Sagenhaft, wie sie mit Dylans Phrasierung und Betonung spielt, dabei doch eigene Gestaltungselemente einfließen läßt. Auch im elektrischen Teil der Performance, der einst den ikonischen „Judas“-Ruf evozierte (der hier übrigens auch nicht fehlt) hält Marshall das himmelhohe Niveau – bleibt auch hier ganz nah an den Originalarrangements (tiefer Respekt vor ihrer Band ist angebracht!) und macht die Show, die Songs doch zu ihren eigenen, schlicht durch ihr Charisma. Dylan-Tribute-Alben gibt es unzählige, darunter auch viele wirklich herausragende – was Marshall hier macht, steht allerdings auf einem ganz eigenen Blatt. Unbedingt eine der Pflicht-LPs dieses Jahrgangs. (2023)