Rezension

Chris Thile ist wahrscheinlich nicht der erste Bluegrass-Musiker, der die technischen Fähigkeiten und das musikalische Verständnis für solch ein Projekt mitbringt. Aber er ist der erste, der es in die Tat umsetzte. Erstmals 2013, mit BWV 1001 und 1002; nach zwölf Jahren hat er das Projekt nun endlich fortgesetzt. Es ist auch diesmal frappierend, mit welcher Genialität Thile dieses Heilige Buch der Violinliteratur auf sein Instrument übertrug. Wobei er sich diesmal mehr Freiheiten erlaubte, oder vielleicht besser formuliert: Mehr Fantasie einfließen ließ. Und dadurch unerwartete Bezüge aufdeckt, zum Flamenco etwa und anderen europäischen Folk-Traditionen. Was im Grunde nachvollziehbar ist, denn die höfischen Tänze, aus welchen die Partiten ja bestehen, haben natürlich ihre tiefen Wurzeln in der Volksmusik; hier werden sie offenbar. Thiles Bach-Verständnis, schon im ersten Teil offensichtlich, steht dabei in keiner Sekunde zur Disposition. An seine sagenhafte Virtuosiät sollte man sich zwar inzwischen gewöhnt haben, aber natürlich bleibt einem auch hier in manchen Passagen schlicht der Mund offenstehen. Was der reinen Musikalität von Thiles Spiel aber niemals im Wege steht. In seinem herrlich zu lesenden Review für das Gramophone Magazine (eine der euphorischsten Rezensionen, die man in der distinguierten britischen Klassik-Zeitschrift je sah!) unterstellt Mark Seow Thile übermenschliche Fähigkeiten – man ist geneigt, ihm Recht zu geben: Seit Franz Liszts Klavierfassungen der Beethoven-Symphonien hat man nur wenige Übertragungen gehört, deren Genialität der schöpferischen Leistung der ursprünglichen Komposition tatsächlich gleichkommen. Diese darf man dazu rechnen. Übrigens, phantastisch klingen tut's auch… (2025)