Rezension

Die Arrangements sind sparsam wie lange nicht mehr, aber Chan Marshall ist nicht mehr das verhuschte, schüchterne Wesen, das sie Mitte der 90er gewesen ist, als sie sich bei Konzerten hinter ihrem zu langen Pony zu verstecken schien. Die Stimme an sich hat sich wenig verändert, ihre Aura aber ist eine ganz andere: Auf „The Wanderer“ strahlt sie, wie der US-„Rolling Stone“ treffend beschreibt, die Autorität einer 70jährigen Blues-Veteranin aus. Das seit jeher Männern vorbehaltene Sinnbild des Wanderes, des „Ramblin‘ Man“, nimmt sie dabei mit größter Selbstverständlichkeit für sich in Anspruch, wie überhaupt weibliches Selbstverständnis ein wesentliches (aber beileibe nicht das einzige) Thema des Albums ist, kulminierend im gemeinsam mit Lana Del Rey gesungenen „Woman“. Marshall wechselt dabei souverän zwischen den verschiedenen Dialekten der reichen Americana-Sprache: Man findet Blues und Folk hier ebenso wie Soul, Indie Rock und sogar modernen R’n’B, und alles fließt selbstverständlich ineinander. Chan Marshall ist mit 46 Jahren nicht nur das bedeutendste Album ihrer eigenen, an großartigen Platten nicht armen Karriere gelungen. Sondern eines der wichtigsten Songwriter-Statements dieser Dekade. (2018)